Willis „sicher“

Die Sonne scheint, als Paul das Haus verlässt. Den Fußball hat er unter seinem Arm, der Matsch spritzt auf der Wiese. Er legt den Ball vor sich und schießt, kräftig, sodass er weit von ihm wegfliegt, dann läuft er ihm nach. Auf der anderen Seite der Wiese liegt Willi. Willi ist sein Freund, aber er ist schon erwachsen. Und Willi hat kein Zuhause. Nein, das stimmt nicht! Willis Zuhause ist der Weg, das glaubt Paul, sagt er zumindest. Aber ganz verstanden hat er es nicht.
Paul geht zu Willi. Er schläft, also rüttelt er an seiner Schulter, die ist schwer und irgendwie hart, das kommt von der Kälte, sagt Willi, aber die Sonne scheint doch?
Willi grunzt und dreht sich um, dann lächelt er zahnlos und breit.
„Hallo Paul!“
Paul kniet sich neben Willi ins Gras und seine Knie werden nass.
„Spielst du wieder Fußball?“, fragt Willi und Paul nickt und denkt.
„Ich muss dich was fragen, Willi!“, sagt er schließlich. Er schaut in Willis Gesicht. Es ist ein bisschen schmutzig und irgendwie runzlig, wie die Äpfel bei Oma, die zu lange in der Schale liegen.
„Wo ist dein Zuhause, Willi?“
Willi scheint überrascht von der Frage. Er fährt sich durch den Rauschebart.
„Weißt du, Kleiner, Heimat ist relativ.“ Paul überlegt. Er weiß nicht, was relativ heißt.
„Heimat ist doch ein Haus“, sagt Paul, „da leben deine Mama und dein Papa. Oma und Opa wohnen nicht weit weg und mittags gibt es Sachen, die gut schmecken, nur manchmal auch grüne Bohnen. Die mag ich nicht!“
„Ach Paul“, sagt Willi und lacht ein bisschen, aber irgendwie auch nicht.
„Heimat ist kein Ort aus Zement und Beton mit einem Dach aus roten Ziegeln. Manchmal ist es ein Lächeln oder eine nette Geste. Es können auch Menschen zu Hause sein, eine dicke Umarmung oder ein freundschaftlicher Klaps auf die Schulter.“ Willi murmelt ein bisschen, und das mag Paul nicht. Aber er hört trotzdem zu.
„Zuhause kann überall sein, wo man sich wohlfühlt und geborgen ist.“
„Was heißt geborgen?“
Willi grinst. „Geborgen heißt sicher.“
„Und wo ist dein ‚sicher‘?“, fragt Paul.
Willi lacht, diesmal richtig.
„Mein ‚sicher‘ ist, dass du jeden Sonntag zum Fußballspielen kommst und mich besuchst, oder dass Frau Häberle mir den Rest ihres Mittagsessens gibt. Oder Jackie, wenn er mir den Ball zurückbringt.“
Der kleine Hund, der sich zu Füßen von Willi kauert, spitzt die Ohren, als er seinen Namen hört, wartet ab und legt den Kopf wieder auf die überkreuzten Pfoten.
„Dein ‚sicher‘ ist kein Haus?“, fragt Paul erstaunt.
„Nein.“ Sagt Willi.
Auf dem Heimweg kickt Paul den Ball langsam vor sich her. Er geht zu seiner Mama und muss ihr erzählen, dass er ein Teil von Willis „sicher“ ist. Der ist ja schließlich auch eines von seinem.

Meyleen Tieringer und Katharina Schmitt, Klasse BvB, USS GmbH Öhringen