Die 43-jährige Tanja unterrichtet an einem Gymnasium die Oberstufenklassen. Bis jetzt lief alles gut in ihrem Leben. Doch nun steht sie vor einem scheinbar unlösbaren Problem. Ihr Sohn, der 15-jährige Elias, befindet sich in der Pubertät und bereitet seiner Mutter großen Kummer. Tanja ist total verzweifelt und weiß nicht mehr weiter. Eine Therapie, von der Tanja sich viel erhoffte, hat leider nicht geholfen. Die Mutter kommt nicht an ihren Sohn heran. Elias blockt ständig ab. Die beiden sind sich ganz fremd geworden.
Tanja verbringt alleine den Abend bei sich zu Hause. Mit einem Glas Rotwein in der Hand sitzt sie auf dem Sofa und denkt nach. Dabei fühlt sie die Wärme der Kerze, die auf dem Couchtisch steht. Sie macht sich Gedanken über ihren Sohn. Elias hat keine Ziele im Leben. Er denkt nur ans Feiern und wie er am besten in seiner Clique ankommen kann. Die Schule bleibt dabei total auf der Strecke. Seine Mutter bekommt einen Elternbrief nachdem anderen. Er schwänzt sehr oft, schreibt schlechte Noten und ist respektlos zu seinen Mitmenschen. Falls er so weitermacht wie bisher, wird Elias von der Schule fliegen. Tanja macht sich große Sorgen um ihn. Sie möchte, dass er etwas aus seinem Leben macht und ein eigenständiger Mensch wird. Als sie in seinem Alter war, hatte sie ganz andere Dinge im Kopf. Sie war sehr zukunftsorientiert, fleißig und arbeitete hart, um ihre Ziele zu erreichen. Ihr war es sehr wich-tig, ein unabhängiger und eigenständiger Mensch zu sein. Die Schule zu schwänzen kam für sie nicht in Frage. Sie wusste, dass sie das Wissen braucht, um voranzukommen.
Während sie sich die Gedanken durch den Kopf gehen lässt, fällt ihr Blick auf das Bücherre-gal. Dabei sieht sie ihre Sammlung von Klassikern, die sie sehr schätzt. Besonders Goethes Werke. Sie greift nach einem dünnen Buch namens „Der west-östliche Divan“. Tanja macht es sich auf dem Sofa gemütlich und blättert es durch. Dabei bleibt sie an einem Gedicht hän-gen. „Selige Sehnsucht“. Das Gedicht zieht sie in den Bann, besonders diese Verse:
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde
Aus: J. W. v. Goethe „Selige Sehnsucht“
In: Der West-östliche Divan
Nach und nach begreift Tanja, dass sie loslassen muss. Sie hat eingesehen, dass Probleme sein müssen, um erwachsen zu werden. Nur so kann eine Entwicklung stattfinden. Elias könnte doch auch wie ein Schmetterling ins Licht flattern und sich in eine reife Person verwandeln. Mit dieser Einsicht schlägt sie das Buch wieder zu, pustet die Kerze aus und geht ins Bett.
Elina Paude, Klasse BvB, USS GmbH Öhringen